August 2008. Unser Sohn Leon wird eingeschult. Ich warte auf mein Biopsieergebnis. Am nächsten Tag ist nichts mehr so wie zuvor. Brustkrebs. Mehrere Herde. Aggressiv. Groß. Hormonabhängig. Ich bin 33 und mein Leben ist perfekt. War perfekt. Bis jetzt. Ich befinde mich in einem Strudel aus Angst und Verzweifelung. Ich habe keine Zeit zum Denken. Ich muss funktionieren. Brustamputation, Port einsetzen, Chemotherapie. Ich bekomme Trenatone, um meine Eierstöcke eventuell vor Folgeschäden der Therapie zu schützen. Meine Idee. Ja, und ich weiß, dass ich Krebs habe. Ich gehe die ganze Sache wohl etwas zu professionell an. Als Sonderpädagogin spult sich das gelernte Programm im Kopf fast von alleine ab: Ich muss sachlich bleiben. Den Oktober verbringe ich mit Menschen, die mir fremd sind. Die erste Chemo. Ich führe Gespräche, die Mut machen. Ich sehe Menschen, die wie ich sind. Ich sehe Menschen, die mit der Zeit verschwinden. Ich sehe Menschen, die neu dazukommen. Und ich merke, dass ich nicht bin wie sie. Ich bin ich. Nur ich. Allein. Wie alle hier. Bestrahlung. Alles tut weh. Aber die Haare wachsen wieder. Es war zu kalt im Wind und zu warm in der Sonne. Ich bin froh, dass mein Körper wenigstens das kann. Haare wachsen lassen. Wie albern. Ich fahre mit Leon in die Kur. Ich habe drei Wochen Zeit, wieder zu leben. Ich lebe. Aber mein Leben wird bestimmt von Unsicherheit und Angst. Ich verbringe die Zeit mit Menschen, die mir fremd sind. Die nicht über den Krebs reden. Die nichts über ihre Krankheit wissen wollen oder sie verdrängen. Ich habe nur diese drei Wochen. Ich muss das schaffen. Allein. Ich bin ein Teamplayer. Und doch bin ich hier allein. Obwohl wir uns doch „zusammen“ fühlen müssten. Merkwürdig. Ich zweifle an mir. Was stimmt nicht mit mir? Warum will ich mein Leben zurück? Mein altes Leben. Ich gehe immer vorwärts. Der Weg ist das Ziel. Nach der Kur fahren wir nach Dänemark. Urlaub. Endlich. Meine Familie und ich kommen zur Ruhe. Wir genießen die Tage und finden uns wieder. Es ist schön, das Leben endlich wieder zu spüren. Die Realität kommt langsam, aber sie kommt. Tamoxifen. Fünf Jahre lang. Der Gentest läuft. Meine Oma hatte Brustkrebs. Vor 30 Jahren. Ich bin in den Wechseljahren. Unfreiwillig. Meine Hormone machen mich verrückt. Die Psychologin in der Krebsberatungsstelle verzweifelt an mir. Ich will reden. Alles wissen. Alles tun. Ich will 110%. Ich will eine Belohnung vom Leben. Ich will eine Belohnung für meinen Mut. Ich will Sicherheit, die es nicht gibt. Die es nie geben wird. Ich bin nicht geheilt. Ich habe eine chronische Krankheit irgendwie im Griff. Mehr nicht. Oktober 2009. Die verbliebene Brust wird amputiert. Ich will das so. Meine Familie steht hinter mir. Ein mutiertes BRCA2-Gen. Nicht weiter erforscht. Risiko für erneuten Brust- oder Eierstockkrebs hoch. Ich bin gefasst. Ich weiß ja, was auf mich zukommt. Ich habe fast eine entspannte Zeit im Krankenhaus. Ich bestelle im Voraus neue BH’s und eine zweite Brustprothese. Fühlt sich alles fast normal an. Nur manchmal denke ich darüber nach, was passiert wäre, wenn ich einfach abgewartet hätte. Aber die Gedanken führen ins Nichts. Wäre. Hätte. Könnte. Wer weiß schon, was am nächsten Tag passiert. Niemand auf dieser Welt. Das tröstet ungemein.

Steffi Berke

Ich besuche eine Modenschau in meinem Sanitätshaus. Toll. Es gibt Kuchen und Kaffee. Und Sekt. Sekt! Ich lehne mich zurück und genieße die Atmosphäre. Was für tolle Frauen. Und was für tolle Dessous. Die sehen toll aus. Ich fühle mich auch ganz weiblich und sexy. Ich bin eine junge Frau mit zwei tollen Brüsten, die ich abends in den Schrank lege. Und am Morgen verwandeln sie mich in das, was ich auch ohne sie bin. Jung und schön. Ich lebe. 2011 bin ich das Model. Ich habe meine erste ANITA – Modenschau in Rostock. Ich sterbe vor Aufregung. Ich hoffe, dass ich überhaupt normal laufen kann. Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich hier mache. Es fühlt sich toll an. Ich gehöre dazu. Ich bin ein Teil von etwas, dass mir mein Leben wieder zurückgeholt hat. Meine Seele saugt die Energie auf und mein Herz wird erfüllt von Zufriedenheit und Sinn. Das hier macht Sinn. Die Blicke der Frauen, die wie ich sind. Die genau wissen, wie es sich anfühlt, wenn das Leben die Türen zumacht. Und die trotz allem hier sind und neue Türen aufstoßen. Ich bin dankbar. Für jeden Moment, den ich erleben darf. Das ist etwas Besonderes. Und dieser Gedanke erfüllt mich bis zum heutigen Tag mit Freude, Stolz und Gerührtheit. Meine Kolleginnen haben es oft nicht leicht mit mir. Ich rede einfach zu viel. Als ich krank war, war ich manchmal leer und tagelang stumm. Aber jetzt rede ich, um mich wieder lebendig zu fühlen. Ich muss erwachsen werden. Ich arbeite an mir. So gut es geht. Worte heilen meine Seele.

Im Frühjahr 2014 stirbt meine Mutter. Eierstockkrebs. Alles ist wieder da. Als ob es nie weg war. Ich bin wieder allein mit mir. Niemand ahnt, wie mich die Angst wieder auffrisst und ich in eine Endlosschleife der Wut falle. Ich muss meinem Sohn erklären, was passiert. Leon ist tapfer. Seine geliebte Nonna ist nun nicht mehr da. Die Schulnoten gehen in den Keller. Einmal Krebs in einem Kinderleben hätte gereicht. Das Leben ist nicht fair. Ich habe ein erhöhtes Risiko für Eierstockkrebs. Jetzt auch für alle sichtbar, die meine Konsequenz nicht begreifen konnten, als ich mir die zweite Brust abnehmen ließ. Ich wusste, dass mein Gefühl mich nicht trügt. Nun macht das alles wieder Sinn. Ich habe alles richtig gemacht. Ich bin 39. habe ein Kind. 13 Jahre alt. Ich möchte nicht noch einmal Krebs bekommen. Es wird mir empfohlen, die Eierstöcke entfernen zu lassen. Mit spätestens 45. Das war auch mein Plan. Aber dass es nun so konkret werden würde, macht mir Angst. Wollten wir nicht noch ein Kind? Wollten wir das nicht immer schon? Ich habe jeden Tag das Ende der Hormontherapie herbeigesehnt. Jetzt sind die 5 Jahre rum. Man könnte auch 10 Jahre Tamoxifen nehmen. Nein. Bis jetzt war ich vernünftig. Aber ich will mehr vom Leben. Wir wollen noch ein Kind. Meine Freundinnen haben die Zeit genutzt. Das zweite, dritte und vierte Kind bekommen. Ohne Krebs. Ohne Angst. Ohne das Gefühl, vom Leben verlassen worden zu sein. Ich war immer nur die, die „krank“ ist. War. Aber ich werde nicht alles versuchen. Wenn es nicht klappt, dann ist das so. Das kann ich akzeptieren. Es macht alles Sinn im Leben. Man kann das Leben nicht überlisten. Ich habe es versucht, aber es passiert alles so, wie es passiert. Mein Körper hat eine Entscheidung getroffen. Eine Monatsblutung zu haben heißt theoretisch auch, einen Eisprung zu haben. Oder? War da nicht die Chemotherapie? Zweifel. Mein Arzt macht mir Mut. Er kennt mich. Wir haben eine Menge durchgemacht. Wir sind Experten. Das Risiko nach einer Schwangerschaft erneut zu erkranken, ist statistisch nicht erhöht nachweisbar. Wir sollen „mal machen“. Und das Risiko, als Eltern bei einem Autounfall zu sterben, läge weitaus höher. Andere Mütter sind da weniger nett:„Also ich würde kein Kind mehr bekommen. Was ist, wenn Du dann stirbst?“ Ok. Danke. Nur weil man Krebs hatte, heißt das also, dass man nicht mehr machen darf, was alle anderen auch tun. Niemand weiß, was in der nächsten Sekunde des Lebens passiert! Ich bin mir hingegen wahrscheinlich in weit höherem Maße bewusst, wie verdammt wertvoll dieses Leben ist!

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