Trotz Narben - Berliner Zeitung

ein Bericht von Uta Eisenhardt

erschienen in der Berliner Zeitung, Nummer 100, 29./31. April / 1. Mai 2017 (Seite 7)

Petra führt einen roten Büstenhalter mit weißen Punkten vor, das Modell hat den Namen „Paris“. Irmi trägt das Modell „Fleur“, schwarze Spitze, darüber ein abnehmbares Bandeau-Top aus dem gleichen Material.

„Mit dem Top kann an die Narben verdecken“, sagt die Moderatorin Bianka ins Mikrofon. Jede Frau im Raum weiß, welche Narben sie meint – sie alle, die Models der kleinen Modenschau, die Moderatorin und die meisten Zuschauerinnen sind an Brustkrebs erkrankt.

Der Laufsteg, auf dem Petra und Irmi die Unterwäsche präsentieren, befindet sich in einem Sanitätshaus in Berlin-Tegel, eine Wäschefirma hat zu der Modenschau eingeladen. Das Unternehmen namens Anita entwickelt neben seinen normalen Kollektionen seit den 70er-Jahren BHs und Badeanzüge speziell für Frauen, die eine Brustkrebs-Operation hinter sich haben.

Es ist leider ein großer Markt – jede achte Frau erhält im Laufe ihres Lebens die Diagnose. 

Nach der Behandlung brauchen sie Büstenhalter, die nicht auf das vernarbte Gewebe drücken, aus denen, wenn die Brüste nach der Operation ungleich groß sind, die nötigen Prothesen nicht herausrutschen, und die obendrein ästhetisch aussehen.

Es ist ein wichtiges und zugleich sensibles Thema – man merkt den Besucherinnen das Staunen darüber an, mit welcher Gelassenheit die beiden Models sich präsentieren. Nach der Modenschau erzählt Irmi, die wie die anderen Frauen nur ihren Vornamen veröffentlicht sehen möchte, wie sie gelernt hat, mit der Krankheit zu leben. Kurz vor Ostern entdeckte sie einen großen Knoten unter ihrer linken Achsel. „Der war am Morgen einfach da.“ Sie erfuhr, dass sie einen besonders aggressiven Tumor hatte und auch 17 ihrer Lymphe befallen waren. „Machen Sie sich noch eine gute Zeit“, hörte sie nicht nur von einem Arzt. „Ich war 44 Jahre alt, hatte vier Kinder, das jüngste acht Jahre alt.“

„Leer geheult“ habe sie sich. Im Krankenhaus traf Irmi auf eine andere Patientin, die ein Buch mit aktuellen medizinischen Informationen über Brustkrebs bei sich hatte. Die ganze Nacht las sie, notierte sich Fragen und suchte nach einem kompetenten Onkologen. Sie erreichte, dass sie auf Kosten ihrer Krankenkasse mit dem damals noch nicht üblichen Chemotherapie-Medikament „Herceptin“ behandelt wurde.

Zeitgleich zog es sie zur klassischen Musik, die sie während der vielen medizinischen Prozeduren hörte, und in die Natur. Ihre kilometerweiten Ausflüge um die malerischen Gewässer der Eggstätter Seenplatte in Oberbayern unternahm sie gemeinsam mit ihrem Mann. Jeder spazierte für sich allein, am Auto trafen sie sich wieder. Zeit zum Nachdenken, für beide. Für alle sei die Diagnose ein Schock, sagt Irmi, für die Kranke, für deren Partner und die Familienangehörigen. Jeder müsse ihn auf seine Weise verarbeiten. „In der Natur habe ich mich mit meinen Ängsten auseinandergesetzt. Später bekam ich gute Ideen und schließlich sehr viel Energie. Es war mein privater Jakobsweg.“

Obwohl die Operation bereits geplant war, verzichtete sie schließlich auf ein ausgleichendes Silikon-Implantat: „Noch eine Veränderung, dachte ich, das kann nicht gut für mich sein.“ Eine Bekannte holte sie dann zur Wäschefirma Anita. Dort wurde sie vermessen und bekam eine passende Epithese, Silikon-Polster, die sie an den Innentaschen ihrer Spezialbüstenhalter befestigen konnte. Seitdem trägt sie auch enge T-Shirts. Im Surfclub genießt sie die Komplimente für ihre neuen Bademodelle.

Wie Irmi erfahren viele Brustkrebs-Patientinnen erst spät, dass ihnen regelmäßige Krankenkassenzuschüsse für Ausgleichsepithesen und Spezial-Büstenhalter mit inneren Taschen, komfortablem Unterbrustband und eben solchen Trägern zustehen. „Die passen, und keiner sieht's“, sagt Petra. „Man will ja auch in sein normales Leben zurück.“

Kurz vor Weihnachten 2010 hatte die damals 49-jährige plötzlich Schmerzen im Arm. „Ich lass mich jetzt nicht in eine Bewegungseinschränkung rein pressen“, war der erste kämpferische Gedanke der Mutter von sechs Kindern – bis sie doch einen Arzt aufsuchte. Petra erfuhr, dass sich mehrere Karzinome in ihrer linken Brust befanden. Die Brust wurde entfernt, sie bekam ein Silikon-Implantat. Es folgte eine Chemotherapie, das bedeutet regelmäßige Infusionen, die über die Venen auf der nicht betroffenen Körperseite zugeführt werden. Eigentlich sollte ihr unter dem Schlüsselbein dafür ein Portkatheder eingesetzt werden. Am Tag des ambulanten OP-Termins entschied sie sich jedoch gegen den Port und dafür, sich die Infusionen doch direkt in die Venen spritzen zu lassen. Ein zufälliges Gespräch mit einer Ärztin hatte Zweifel geweckt, und Petra folgte ihrem Bauchgefühl. Sie sagte den Termin ab und ging stattdessen mit ihrem Mann bummeln. Es war ein wichtiger Moment für ihren Umgang mit der Krankheit.

Von da an hatte sie den Mut, auf ihr Gefühl zu hören. „Jede Frau muss ihren eigenen Weg finden“, sagt sie. Wenn man aber eine Überzeugung gewonnen habe, solle man sich auch nicht davon abbringen lassen. Sie habe sich bei jedem Schritt zunächst alle verfügbaren Informationen besorgt und dann aus dem Bauch heraus entschieden – unter Umständen auch gegen den Rat der Ärzte. So lehnte sie sowohl die Antiöstrogentherapie als auch die Bestrahlung ab. „Mit kleinen Kindern, die man noch begleiten möchte, macht man sich solche Entscheidungen nicht leicht.“ Drei Tage brauchte sie, um die Reaktion des Arztes im Strahlungszentrum zu verdauen, der Petras Absage mit den Worten quittiert hatte: „Gut, dann sind Sie eben in zwei Jahren tot.“

In solchen Situationen braucht man Freundinnen: „Dieses kurze Jammern-Dürfen vor jemandem außerhalb der Familie, das hat mir sehr geholfen.“ Auch ihr Mann unterstützte sie. Seine Liebesbeteuerung lautete: „Es ist egal, dass deine Haare ausgefallen sind und dass deine Brust entfernt wurde: Hauptsache, du bist da!“ Irmi, Petra und Bianka kommen aus den unterschiedlichsten Ecken Deutschlands, doch ihre Erfahrungen ähneln sich: „Anfangs schaut man sich um, sieht Leute, die salzige Chips und fettes Fleisch essen, die rauchen, und man fragt sich:

Warum ich? Ich habe mich doch immer gut ernährt und auf meine Gesundheit geachtet“, erzählt Petra. „Eine Freundin hat mich das auch gefragt“, fällt ihr Bianka ins Wort. „Ich habe geantwortet: ,Diese Frage darfst du mir nicht stellen, die kann ich mir stellen. Aber ich stelle sie mir nicht, weil ich mich sonst verrückt machen würde.

"Natürlich gibt es genetische Dispositionen, doch Umwelt, Psyche, körperliche Konstitution und Ernährung spielen ebenfalls eine Rolle. Für die Heilung sei es wichtig, an die frische Luft zu gehen und Sport zu treiben, so viel, wie es einem in der jeweiligen gesundheitlichen Verfassung möglich ist: „Krebszellen mögen keinen Sauerstoff“, weiß Irmi, die begeisterte Wassersportlerin.

Alle drei Frauen haben zu einer neuen  Gelassenheit gefunden. Irmi ließ sich nicht einmal aus der Ruhe bringen, als ihr Mann nach 25 Jahren arbeitslos wurde. Nüchtern überlegten sie gemeinsam, wie es weitergehen könnte. „Hauptsache, wir sind gesund und zusammen.“

Petra meint, sie sei dankbarer geworden: „Man nimmt nicht alles mehr so selbstverständlich.“ „Man freut sich schon über Kleinigkeiten“, sagt auch Bianka. „Man wird ein zufriedenerer Mensch.“

Irmi, die sich nach der Diagnose „leer geheult“ hatte, fühlte sich anschließend wie ein Schwamm: tatkräftig, wissensdurstig, bereit, neu anzufangen. Sie begann, in einem Verlag zu arbeiten, seit zehn Jahren reist sie immer wieder als Unterwäsche-Model durch die Republik. Wegen der vielen neuen Eindrücke, die sie gewonnen hat, bezeichnet sie die Zeit nach ihrer Krebserkrankung als „meine 17 besten Jahre“.

Mit Petra ist sie sich einig, dass ihre Arbeit auf dem Laufsteg mehr als nur ein Modeljob ist: „Wir beweisen den Frauen, dass sie wieder schöne Dessous tragen, dass sie weiterhin attraktiv sein können – wir signalisieren ihnen ein gutes Lebensgefühl.“